Berücksichtigung der Passiva II in der Liquiditätsbilanz
BGH, Urt. v. 19.12.2017 – II ZR 88/16
Amtliche Leitsätze:
Einen vom Insolvenzverwalter zur Darlegung der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO aufgestellten Liquiditätsstatus, der auf den Angaben aus der Buchhaltung des Schuldners beruht, kann der Geschäftsführer nicht mit der pauschalen Behauptung bestreiten, die Buchhaltung sei nicht ordnungsgemäß geführt worden. Er hat vielmehr im Einzelnen vorzutragen und ggf. zu beweisen, welche der in den Liquiditätsstatus eingestellten Verbindlichkeiten trotz entsprechender Verbuchung zu den angegebenen Zeitpunkten nicht fällig und eingefordert gewesen sein sollen.
Bei der Feststellung der Zahlungsunfähigkeit gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO anhand einer Liquiditätsbilanz sind auch die innerhalb von drei Wochen nach dem Stichtag fällig werdenden und eingeforderten Verbindlichkeiten (sog. Passiva II) einzubeziehen.
Kurzsachverhalt:
Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen einer GmbH, er nimmt den Beklagten, ihren Geschäftsführer, gemäß § 64 Satz 1 GmbHG auf Ersatz von 4.725.195,81 € wegen Zahlungen, die im Zeitraum vom 01.12.2008 bis zum 08.01.2009 vom Konto der Schuldnerin bei einer Bank veranlasst wurden, in Anspruch. Der Kläger behauptet, die Schuldnerin sei spätestens seit dem 01.12.2008 zahlungsunfähig gewesen.
Das LG weist die Klage ab, das OLG die Berufung zurück. Auf die Revision des Klägers hebt der BGH das Berufungsurteil auf und verweist die Sache an das OLG zurück.
Kernaussagen:
Vgl. zunächst LS 1
1.1. Die Fälligkeit einer Forderung setzt gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO "ernsthaftes Einfordern" voraus. Die Übersendung einer Rechnung ist hierfür zwar ausreichend, aber nicht erforderlich. Danach ist hier bereits aufgrund der entsprechenden Einbuchung der jeweiligen Verbindlichkeit in der Buchhaltung der Schuldnerin auch ohne Vorlage einer Rechnung von einem ernsthaften Einfordern der Gläubiger auszugehen, da im Verhältnis zu dem für die ordnungsgemäße Rechnungslegung zuständigen Geschäftsführer die Gesellschaft - und damit hier auch der Kläger - davon ausgehen kann, dass der Geschäftsführer die Bücher so geführt hat oder durch Angestellte hat führen lassen, dass sie ein richtiges und vollständiges Bild von allen Geschäftsvorfällen vermitteln.
1.2. Der beklagte Geschäftsführer kann sich nicht auf die Behauptung beschränken, die Buchhaltung sei im fraglichen Zeitraum nicht mehr ordnungsgemäß geführt worden. Es obliegt ihm vielmehr, im Einzelnen vorzutragen und ggf. zu beweisen, welche der vom Kläger in die Liquiditätsbilanz eingestellten Verbindlichkeiten konkret nicht bestanden haben oder nicht fällig gewesen sein sollen.
Zahlungsunfähigkeit und nicht nur eine vorübergehende Zahlungsstockung liegt vor, wenn der Schuldner nicht in der Lage ist, sich innerhalb von drei Wochen die zur Begleichung der fälligen Forderungen benötigten finanziellen Mittel zu beschaffen und die Liquiditätslücke auf unter 10 % zurückzuführen.
2.1. In die zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit aufzustellende Liquiditätsbilanz sind auf der Aktivseite neben den verfügbaren Zahlungsmitteln (sog. Aktiva I) die innerhalb von drei Wochen flüssig zu machenden Mittel (sog. Aktiva II) einzubeziehen und zu den am Stichtag fälligen und eingeforderten Verbindlichkeiten (sog. Passiva I) sowie den innerhalb von drei Wochen fällig werdenden und eingeforderten Verbindlichkeiten (sog. Passiva II) in Beziehung zu setzen. – Darin dürfte eine Abweichung von der Rechtsprechung des IX. Senats des BGH liegen, auch wenn die vorliegende Entscheidung dies in Abrede stellt.
2.2. Zwar, so führt der II. Senat aus, sei der Wortlaut des § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO für die Frage der Einbeziehung der Passiva II unergiebig, den Gesetzesmaterialien sei indessen zu entnehmen, dass der Begriff der Zahlungsunfähigkeit nicht rein stichtagsbezogen zu verstehen sei. Vielmehr sei auch die zeitliche Dauer einer etwaigen Liquiditätslücke zu berücksichtigen, um die Zahlungsunfähigkeit von einer nur vorübergehenden Zahlungsstockung abzugrenzen.
2.3. Dadurch ergeben sich keine systematischen Abgrenzungsprobleme zur drohenden Zahlungsunfähigkeit nach § 18 InsO. Der Unterschied besteht darin, dass eingetretene Zahlungsunfähigkeit vorliegt, wenn der Schuldner eine bereits am Stichtag vorhandene Liquiditätslücke von 10 % oder mehr nicht innerhalb von drei Wochen schließen kann, während eine solche Liquiditätslücke bei drohender Zahlungsunfähigkeit noch nicht besteht, sondern unter Berücksichtigung des weiteren Verlaufs voraussichtlich (erst künftig) eintreten wird. Ist der Schuldner innerhalb des Prognosezeitraums nicht in der Lage, seine Liquiditätslücke zu schließen, ist er am Stichtag bereits zahlungsunfähig.
2.4. Die Berücksichtigung von Passiva II führt daher – entgegen Gero Fischer - auch nicht zu einer unbilligen Verschärfung der gesetzlich normierten Voraussetzungen, da es nur konsequent ist, Aktiva und Passiva spiegelbildlich zu behandeln.
2.5. Die notwendige Prognoseentscheidung entbehrt nicht der erforderlichen Sicherheit der Beurteilung.
2.6. Für das weitere Verfahren weist der BGH darauf hin, dass im Falle des Nachweises einer Zahlungseinstellung durch den Kläger der Beklagte sich für den Beweis der trotzdem bestehenden Zahlungsfähigkeit nicht pauschal auf den Beweis durch Sachverständigengutachten beziehen kann. Als Geschäftsführer, der mit den finanziellen Verhältnissen der insolvent gewordenen GmbH aufgrund seiner Tätigkeit vertraut ist, ist er vielmehr gehalten, zu einer Liquiditätsbilanz, die Zahlungsfähigkeit belegen soll, konkret vorzutragen.
Hierbei ist eine Forderung gegen Dritte nur dann als Liquidität zu berücksichtigen, wenn sie innerhalb von drei Wochen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einzuziehen ist. Auch die Liquidität des Drittschuldners ist bei der Prüfung zu berücksichtigen.
2.7. Könnte der Schuldner sich die erforderliche Liquidität durch die Verwertung von Vermögensgegenständen zwar verschaffen, ist hierzu aber nicht bereit, ist Zahlungsunfähigkeit gegeben.