04.07.2016
Schutzschirmverfahren, Ermächtigung zur Begründung von Masseverbindlichkeiten, Anfechtung von Zahlungen auf Arbeitnehmeranteile zur Gesamtsozialversicherung
BGH, Urt. v. 16.06.2016 – IX ZR 114/15
Amtliche Leitsätze:
- Hat das Insolvenzgericht im Schutzschirmverfahren nach § 270b Abs. 3 InsO allgemein angeordnet, dass der Schuldner Masseverbindlichkeiten begründet, hat dieser kein Wahlrecht. Die Begründung von Masseverbindlichkeiten richtet sich dann nach den gesetzlichen Vorschriften, die für den starken vorläufigen Insolvenzverwalter gelten.
- Nimmt der allgemein nach § 270b Abs. 3 InsO ermächtigte Schuldner die Arbeitsleistung seiner Arbeitnehmer aus schon bestehenden Arbeitsverhältnissen in Anspruch, begründet er wegen des Bruttolohnanspruchs des Arbeitnehmers Masseverbindlichkeiten; Masseverbindlichkeiten sind auch die Ansprüche auf Zahlung der Arbeitnehmeranteile für die Sozialversicherung.
- Auf die Begründung von Masseverbindlichkeiten durch den nach § 270b Abs. 3 InsO allgemein ermächtigten Schuldner findet § 55 Abs. 3 InsO entsprechende Anwendung.
- Eine Umqualifizierung der nach § 55 Abs. 2 InsO als Masseverbindlichkeit geltenden Forderungen in Insolvenzforderungen nach § 55 Abs. 3 InsO setzt voraus, dass der Schuldner die Forderungen noch nicht erfüllt hat.
Kurzsachverhalt:
07.02.2014:
Schuldnerin stellt Insolvenzantrag und beantragt das Schutzschirmverfahren, sowie "die Schuldnerin zu berechtigen, Masseverbindlichkeiten zu begründen". In der Antragsbegründung wird ohne Spezifizierung von Einzelermächtigung gesprochen.
10.02.2014:
Anordnung Schutzschirmverfahren sowie "Auf Antrag der Schuldnerin wird angeordnet, dass diese Masseverbindlichkeiten begründen darf (§§ 270 Abs. 3, 55 Abs. 2 InsO)".
17.02.2014:
Schuldnerin informiert die Beklagte (Sozialversicherungsträger) über diese Umstände und teilt mit, dass sie die Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung zwar zahlen werde, die Zahlungen aber nach Verfahrenseröffnung anfechtbar seien.
10.03.2014:
Schuldnerin zahlt 32.000 € Arbeitnehmeranteile an die Beklagte.
02.04.2014:
Weitere Zahlung über 32.000 €.
01.05.2014:
Insolvenzeröffnung unter Anordnung der Eigenverwaltung, Bestellung des Klägers zum Sachwalter.
Der Kläger begehrt im Wege der Deckungsanfechtungsklage Rückzahlung beider Beträge. Nach Bestätigung des Insolvenzplans, der die Fortführung rechtshängiger Anfechtungsstreitigkeiten vorsieht, wird das Insolvenzverfahren aufgehoben.
Das LG verurteilt die Beklagte, auf deren Sprungrevision weist der BGH die Klage ab.
Kernaussagen:
1.1 § 259 Abs. 3 InsO (Fortführung von Rechtsstreitigkeiten, welche die Insolvenzanfechtung zum Gegenstand haben) ist auf den Sachwalter entsprechend anwendbar.
1.2 § 259 Abs. 3 InsO setzt voraus, dass die Klage bis Verfahrensaufhebung rechtshängig gemacht worden ist.
- § 130 InsO gestattet die Anfechtung nur gegenüber einem Insolvenzgläubiger. Unter einem solchen ist derjenige zu verstehen, der ohne die erlangte Deckung an dem anschließenden Insolvenzverfahren in Bezug auf die befriedigte Forderung nur im Rang der §§ 38, 39 InsO teilgenommen hätte.
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3.1 Hat das Insolvenzgericht gemäß § 270b Abs. 3 InsO angeordnet, dass der Schuldner Masseverbindlichkeiten begründet, gelten für ihn dieselben Grundsätze wie für den starken vorläufigen Verwalter. Möglich sind Einzel- und Globalermächtigungen.
3.2 Trotz der (vielleicht missverständlichen) Formulierung des vorliegenden Beschlusses lag eine Globalermächtigung vor. Eine Ermächtigung, bei der es im Belieben des Schuldners steht, ob er im Einzelfall Masseverbindlichkeiten oder Insolvenzforderungen begründen will, kommt nicht in Betracht. Die Erwähnung der Einzelermächtigung in der Antragsbegründung hatte im Übrigen im Antrag selbst keinen Niederschlag gefunden.
3.3 Mangels Begründung der Verbindlichkeiten gegenüber der Beklagten im Rahmen der Ermächtigung nach § 270b Abs. 3 InsO scheiden Masseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 2 Satz 1 InsO aus.
3.4 Solche ergeben sich allerdings aus § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO, wenn der Schuldner die Gegenleistung aus dem Dauerschuldverhältnis mit den Arbeitnehmern in Anspruch genommen hat, anstatt diese freizustellen. Für die Arbeitnehmeranteile der Sozialversicherungsbeiträge gilt dasselbe, weil sie Bestandteil des Bruttoarbeitslohns sind. Der einheitliche Bruttoarbeitslohn kann für denselben Zeitraum nicht teilweise Insolvenzforderung, teilweise Masseverbindlichkeit sein.
3.5.1 § 55 Abs. 3 InsO findet im Schutzschirmverfahren analoge Anwendung, wenn der Schuldner gemäß § 270b Abs. 3 InsO ermächtigt worden ist.
3.5.2 § 55 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 InsO setzen übereinstimmend voraus, dass die Masseverbindlichkeit noch nicht erfüllt worden ist. Gegenstimmen in der Literatur kann nicht gefolgt werden. Der Anspruchsübergang auf die Bundesanstalt für Arbeit, sowie der Wechsel in der Passivlegitimation für die Insolvenzanfechtung nach § 169 SGB III finden erst mit dem Antrag auf Insolvenzgeld statt. Jedenfalls vor diesem Zeitpunkt verbleibt es bei Masseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 2 InsO.
3.5.3 Die Auffassung, Leistungen des Schuldners, die nicht der Sanierung oder Betriebsfortführung gedient haben, seien anfechtbar, wenn der Gläubiger die hieraus folgende Zweckwidrigkeit erkannt habe, ist abzulehnen.
3.6 Masseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 2 InsO oder §§ 270b Abs. 3 i. V. m. 55 Abs. 2 InsO sind unanfechtbar, soweit sie durch den vorläufigen starken Verwalter / Schuldner als Organ der Masse begründet worden sind, denn im Interesse des schutzwürdigen Vertrauens des Rechtsverkehrs darf die Begründung oder Erfüllung von Masseverbindlichkeiten anfechtungsrechtlich nicht rückabgewickelt werden.
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